Aufräumen beginnt im Kopf

von Robert Nabenhauer

Gastartikel von Mylène Alt

Schauen Sie sich in Ihrem Büro um. Was fällt Ihnen auf? Brauchen Sie mehr als zwei Hände, um all‘ die Dinge zu benennen, die auf Ihrem Schreibtisch liegen? Und hätten Sie es gerne anders? Wenn ja, sind Sie in guter Gesellschaft. Wenn Sie darüber hinaus Aufräumen eher unsexy finden –  Bingo! Ich habe eine gute und eine weniger gute Nachricht für Sie: Lassen Sie uns mit dem Erfreulichen beginnen.

Sobald Sie wissen, welches Ding wohin gehört, reduziert sich das Aufräumen auf ein Minimum. Es liegt nämlich kaum mehr was herum. Sie haben beim ersten Kontakt mit dem Papier, Plan, Ordner, der Post eine kleine Entscheidung gefällt und es an den dafür bestimmten Ort versorgt. Die weniger gute Botschaft ist, dass das nicht auf Knopfdruck passiert. Und einfach Wegzaubern lässt sich das Papier leider auch nicht.

Platz im Kopf schafft Platz im Aussen.

Wie geht es dann? Zum einen, indem Sie gedanklich die Möglichkeit dazu schaffen. Statt sich wie bisher vielleicht als „Chaot“, „hoffnungsloser Fall“ oder „kreatives Genie, welches das Chaos beherrscht“ zu bezeichnen, seien Sie mal ganz ehrlich mit sich selbst. Sie brauchen es niemandem zu erzählen. Lassen Sie den Blick

noch einmal über Ihre Arbeitsfläche schweifen. Gehen wir mal davon aus, dass Sie die Muse küsst und Sie ein kreativer Schub ereilt. Wie lange brauchen Sie, um loszulegen?

Wie viel Zeit verstreicht, bis Sie parat sind, alle nötigen Unterlagen zur Hand haben und starten? 5 Minuten, 10 Minuten, 15 Minuten? Dauert es länger, ist der erste Energieschub verpufft und Sie sind reif für den nächsten Kaffee. Und sich dann wieder neu zu motivieren, dürfte schwierig sein. Ausser, es kommt Druck von aussen in Form neuer Aufträge, der Kunde ruft an, Ihre Deadline rückt näher. Das ungute Gefühl aber bleibt und wird von Tag zu Tag stärker.

Murphy lässt grüssen.

Und plötzlich ist jede Ablenkung recht, um sich nicht dem ungemütlichen Thema widmen zu müssen. Wichtiges wird plötzlich auch noch dringend. Und Murphy macht einen super Job, indem er Sie garantiert an vergangene Situationen erinnert, in denen es Ihnen gleich ergangen ist. Und schon sind Sie wieder in Ihrem mentalen Konzept von „Ich schaffe das nie“, „Warum immer ich“, „Hoffentlich merkt niemand, wie lange ich dafür gebraucht habe“, gefangen. Wenn Sie solche Gedanken, bewusst oder unbewusst, so lange mit sich herumtragen, bis Sie sie selber glauben und besagter Murphy Ihnen dank selbst erfüllender Prophezeiung laufend beweist, dass es einfach nichts wird, wen wundert’s wenn nichts Erfreulicheres dabei herausschaut. Schon Albert Einstein wusste, dass sich Probleme nicht auf derselben Ebene lösen lassen, auf der sie entstanden sind.

Neue Ergebnisse erfordern neue Handlungen.

Sind wir uns darin einig? Und wie sieht das konkret aus? Schauen Sie sich doch während eines Tages mal selber ein wenig über die Schulter

bzw. hören Sie sich zu. Was erzählen Sie sich selbst über sich? Welche abwertenden Gedanken schwirren durch Ihren Kopf in einem Stressmoment? Was erzählen Sie vertrauten Menschen über Ihren Arbeitstag? Ihre Energie folgt der Aufmerksamkeit –  Das, worauf Sie Ihre Wahrnehmung richten, bekommt mehr Raum, wird wichtiger. Und nun haben Sie die Wahl –  und ja, Sie haben eine echte Wahl – sich auf das zu konzentrieren, was schief läuft oder dem, was funktioniert und erfreulich ist, zumindest gleich viel Platz zu geben.

Der Vorteil vom Nachteil.

Es liest sich vielleicht etwas ketzerisch, wenn ich behaupte, dass jede noch so ungewollte Situation für etwas gut ist. Fragt sich, in welchem Augenblick wir das erkennen können. Oft kurz nach dem Ereignis, manchmal braucht es Jahre, um zu erkennen, dass – wie in meinem Fall –  ein Chef, mit dem ich das Heu bestimmt nicht auf der gleichen Bühne hatte –  ein Geschenk war. Heute würde ich mich bei ihm bedanken dafür, dass er so ist, wie er ist. Mir hat’s nämlich damals den berühmten Nuggi rausgehauen und ich habe meinen Job hingeschmissen. Seither widme ich mich meiner Passion, anderen Menschen zu zeigen, wie sie sich optimal organisieren und aufgeräumt durchs Leben gehen. Einem Thema, das auch erst entdeckt werden wollte.

Und auch wenn ich seit 2009 meinen Traumjob gefunden habe, das Leben bietet immer wieder neue Herausforderungen. Und statt wie früher in das Drama einzusteigen und mein ganzes Umfeld daran teilhaben zu lassen, notiere ich mir die stressvollen Gedanken, die ich über ein

Thema habe und untersuche sie mit der ebenso einfachen wie wirkungsvollen Methode von The Work of Byron Katie (Webseite des deutschsprachigen Verbandes siehe http://www.vtw-the-work.org/the-work).

Und genau das können Sie auch in allen Situationen tun, in denen Sie genervt sind, über Kollegen, den Chef, die Assistentin. Wenn Sie noch nicht so geübt sind, ist es von Vorteil, über andere Menschen zu schreiben. Später können Sie auch Ich-Sätze formulieren und sich damit selber auf die Schliche kommen.

The Work in der Praxis

Gehen wir davon aus, es ist Mittwochmorgen und Sie haben sich mal wieder richtig heftig über Ihren Chef geärgert, weil er eine Arbeit an Sie delegiert, die er seit zwei Wochen aktiv verschlampt hat. Dass die Anfrage schon so lange zurückliegt, lässt sich aus dem Mail, das er Ihnen dazu sendet, leicht erkennen. Eher ein undankbarer Job. Doch damit nicht genug. Er bittet Sie, die umfangreiche Arbeit doch bitte bis Ende dieser Woche fertigzustellen, damit er das Feedback an die Zentrale geben kann.

Was gäbe es da für mögliche stressvolle Gedanken dazu? Um es etwas greifbarer zu machen, nennen wir Ihren Chef in diesem Fall „Paul“:

  • „Paul sollte erkennen, dass ich mehr Zeit brauche.“
  • „Paul nützt meine Gutmütigkeit aus.“
  • „Paul hat keine Ahnung, wie viel Arbeit das ist.“
  • „Paul ist als Chef unbrauchbar.“

Vielleicht finden Sie noch mehr Varianten davon, das hängt davon ab, wie strapaziert Ihr Verhältnis zu Paul bereits ist, wie gut Ihre Tagesform ist, ob Sie Paul grundsätzlich schätzen und ob das beschriebene Szenario eher die Ausnahme als die Regel ist.

Picken wir mal einen Satz heraus:

„Paul sollte erkennen, dass ich mehr Zeit brauche.“

Beantworten Sie dazu folgende vier Fragen:
Dazu ein Tipp: The Work ist eine Meditation, es geht nicht darum, eine logische, rasche Antwort zu finden, es geht darum, sich einen Augenblick Zeit zu nehmen, um zu spüren, was Ihr Innerstes für Antworten für Sie parat hat. Gehen Sie zurück zu dem Augenblick, wo Ihnen der Gedanke das erste Mal gekommen ist. Meine möglichen Antworten lesen Sie in kursiver Schrift:


Frage 1: Ist das wahr? Als Antwort ist JA oder NEIN möglich. Bei NEIN, direkt zu Frage 3.

JA.

Frage 2: Können Sie mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist?

JA

Frage 3: Wie reagieren Sie, was passiert, wenn Sie diesen Gedanken glauben?

Ich merke, wie eine Wut in mir aufsteigt, ich könnte Paul zum Mond schiessen. Ich fühle mich ungerecht behandelt, unverstanden, total ausgenützt. Meine Gedanken rasen, ich bin sprachlos, bringe kein Wort heraus. Meine Schultern verkrampfen sich, ich schwitze, möchte am liebsten flüchten.

Frage 4: Wer wären Sie (in derselben Situation) ohne diesen Gedanken?

Ich wäre entspannt, würde Paul zuhören, würde sehen, dass er ein echtes Problem hat und meine Unterstützung braucht. Ich hätte Verständnis und würde ihm sagen, dass ich es mir anschaue. Ich würde ihm ruhig erläutern, warum ich dafür mehr Zeit benötige und bis wann ich es fertig stellen kann.

Bei der Frage 4 geht es darum, sich die Situation aus neutraler Sicht vorzustellen, als ob Sie diesen Gedanken gar nicht denken könnten. Hilfreich ist es, wenn Sie sich bildlich vorstellen, wie Sie den Satz für ein paar Minuten in eine Schublade verstauen. Oder Sie schauen sich die Situation aus übergeordneter Warte/dissoziiert an, als ob Sie durch ein Fernrohr schauen würden. Sie sehen sich am Pult sitzen, Paul steht neben Ihnen und gibt Ihnen den Auftrag. Beschreiben Sie, was Sie sehen und wie Sie sich dabei fühlen (ohne den Gedanken).

Anschliessend kehren Sie den ursprünglichen Satz um:

Gehen Sie nochmals zurück in den Moment, als Sie den Gedanken das erste Mal dachten und schauen Sie, ob die Umkehrungen möglicherweise auch stimmen könnten. Finden Sie drei echte Beispiele in der spezifischen Situation. Ich habe Ihnen meine Variante in kursiver Schrift dazugeschrieben. Finden Sie dazu Ihre eigenen Beispiele oder anders gesagt, überlegen Sie, wofür es gut sein könnte, wenn ….

Umkehrung ins Gegenteil: Paul sollte nicht erkennen, dass ich mehr Zeit brauche.

Beispiel 1: Weil er in dem Moment so im Stress ist, dass er dafür keine Kapazität hat.

Beispiel 2: Weil es nicht sein Job ist, meine Ressourcen einzuteilen.

Beispiel 3: Weil er offensichtlich nicht weiss, was meine Prioritäten sind.

Umkehrung zur anderen Person: Ich sollte erkennen, dass Paul mehr Zeit braucht.

Beispiel 1: Ich könnte ich ihn in Zukunft aktiver entlasten statt abzuwarten.

Beispiel 2: Wir könnten wöchentlich kurz zusammensitzen/Pendenzen besprechen.

Beispiel 3: Dann bleibt auch mehr Zeit für ihn, um zu erkennen, was ich leiste.

Umkehrung zu sich selbst: Ich sollte erkennen, dass ich mehr Zeit brauche.

Beispiel 1: Um mir ein Bild von der Aufgabe zu machen, bevor ich mich aufrege.

Beispiel 2: Um Paul zu sagen, wie viel Zeit ich zusätzlich benötige.

Beispiel 3: Um mir zu überlegen, wer mich dabei unterstützen kann (Praktikant).

Wenn sich das etwas abstrakt liest, liegt das möglicherweise daran, dass Ihr Verstand an dem festhalten möchte, was er kennt. Um mit Byron Katie, der Frau, die The Work geprägt hat, zu sprechen: Wollen Sie Recht haben oder frei sein?“. Und Ihr Verstand hat nur eine Referenz, die Vergangenheit, er wird Ihnen Lösungen vorschlagen, die Sie früher schon ausprobiert haben, möglicherweise mit mässigem Erfolg. Sie erinnern sich: Neue Ergebnisse rufen nach einer neuer Handlung.

Und es geht niemals um richtig oder falsch, auch nicht darum, ob Ihre Antworten für Ihren Verstand Sinn machen. Ihr Inneres kennt die Antwort bereits und freut sich, sie Ihnen mitzuteilen. Dafür braucht es Momente der Stille, in der Neues entstehen kann. Auch die Frage, wer an einer Situation schuld ist, bringt Sie nicht wirklich weiter und vergrössert die Distanz zum Gegenüber.

Das Geniale an The Work ist, dass es sich auf jede scheinbar noch so banale Situation anwenden lässt. Ob mich die langsame Kassiererin in der Migros ärgert, ob mein Nachbar den Rasenmäher über Mittag anwirft oder mein Sohn sein Zimmer mal wieder nicht aufräumt. Sie haben jederzeit die Wahl, ob Sie sich weiter ärgern wollen, auf Konfrontation gehen mit Ihren Mitmenschen oder sich einen Moment der Stille gönnen und die Situation hinterfragen. Und mit etwas Übung lässt sich The Work überall durchführen. Selbst beim Hundespaziergang.

Und das Schönste daran ist: Egal, ob Sie mit dem Handwerk, dem Aufräumen auf dem Tisch, oder mit dem Aufräumen in Ihren Gedanken beginnen, beides wird seine Wirkung zeigen. Wie Innen, so Aussen.

Autorenportrait:

Mylène Alt, Inhaberin BüroProjekt seit 2009, professioneller Arbeitsplatz- und Aufräumcoach für die ganze Schweiz, Coach für The Work of Byron Katie, und gehört dem deutschsprachigen Verband vtw an. www.aufraeumen.ch

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